Warten

0:32 Uhr.
Es ist kalt und nass. Der Schnee ist schon wieder geschmolzen und der Neue bleibt nicht liegen oder schmilzt noch bevor er auf den Boden trifft. Davor geschützt sitzt sie da auf der kleinen Holzbank unter dem Dach der Bushaltestelle. Einzig das Licht der Leuchtreklame der Volksbank gegenüber scheint zu ihr herüber. Mit geschlossenen Augen füllt sie ihre Lungen bis zum Anschlag. Die kalte eindringende Luft fühlt sich an wie der erste Biss auf ein Zahnfrisch-Kaugummi - eiskalt, doch wohltuend und beruhigend. Durch den Mund gelangt sie wieder in die Außenwelt und bildet ein kleines Kondenswölkchen. So atmet sie immer wieder, immer weiter ein und wieder aus, um nicht an die bisherige Länge ihrer Wartezeit zu denken. Doch sie muss befürchten, dass um diese Uhrzeit kein Bus mehr kommt. Insgeheim weiß sie, dass kein Bus mehr kommen wird. Doch nichts täte sie lieber, als hier weg zu kommen. Also wartet sie bis sie abgeholt wird. Sei es vom Bus, sei es von jemand anderem. Sie weiß wohin sie will, nur ist ihr noch nicht klar, wie sie es dorthin schafft und ob überhaupt. Ihre Blicke gen Himmel suchen verloren nach den Sternen und dem Mond. Sie atmet ein, sie atmet aus. Mit der Erkenntnis des zu stark bewölkten Himmels senkt sie den Kopf. Immer noch stößt ihr Mund kleine Wölkchen aus. Vielleicht reißt die Wolkendecke ja später noch einmal auf.

Ungeduldig steht sie auf und geht ein paar Schritte, um ihre müden Beine auszustrecken. Es kommt ihr vor, als liefe sie einen Marathon und schüttelt sich kurz um sich aufzulockern, wie Boxer kurz vor einem Kampf. Dann lehnt sie sich an den Pfosten der Haltestelle und wartet weiter. Bereit für ihre Reise. Sie entlässt ihre Sorgen und Zweifel auf die nasse Pflastersteinstraße, in der sich das Licht der Neonreklame spiegelt. Doch immer noch lässt der Bus auf sich warten. Sie gräbt ihre Hände immer tiefer in die kaputten Taschen ihres Wintermantels. Darin noch ein altes Taschentuch, das wohl durch die Löcher ins Mantelinnere gefallen war.
Zitternd setzt sie sich wieder auf die Bank. Nur noch einen Gedanken in ihrem Kopf, der schmerzt, wie schon ewig nicht mehr: die Hoffnung, dass der Bus endlich kommt und sie ins Warme bringt.
Da spiegelt sich ein Licht in den Fenstern der Häuser, die ringsherum stehen und eine Kurve auf ihrem Weg begleiten. Langsam kommt ein Bus angefahren. Sie springt voller Hoffnung auf und versucht ihn aus der Ferne zu entdecken. Doch enttäuscht muss sie feststellen, dass der Bus aus der falschen Richtung kommt. Auch hält er nicht einmal auf der anderen Straßenseite, bei der gegenüberliegenden Haltestelle an. Ein paar Sekunden starrt sie stumpf in die Richtung aus der er kam, ehe sie seufzend ausatmet und wieder ihren Platz auf der Bank einnimmt.

Müdigkeit macht sich bei ihr bemerkbar. Vorsichtig lehnt sie sich mit Schulter und Kopf an die seitliche Mauer der Bushaltestelle, direkt neben ihr, als wäre sie eine Schulter zum Anlehnen. Ein kurzes Gähnen kommt zum Vorschein. Vielleicht wäre es besser zu gehen, vielleicht wird der Bus nie wieder kommen, geht ihr als Gedanken durch den Kopf. Doch sind ihre Arme und Beine schon fast steif durch die Kälte und sie viel zu müde, um sich nun nach einer neuen Verbindung umzusehen, aber in erster Linie ist sie zu stur, zu stolz, zu eigensinnig, um mit dem Warten aufzuhören, ganz egal, wie das Ende der Reise aussehen möge. Inzwischen war die Wartezeit zu lang, um jetzt einfach zu gehen. Sie wüsste auch gar nicht wohin.

Dafür wird es immer kälter. Die Schneeflocken vergrößern sich und bleiben nach und nach liegen. Es ist ein schöner Anblick, nicht nur, weil der Schnee den Schmutz und Müll am Straßenrand bedeckt. Wäre doch nur ihre Müdigkeit nicht so groß... Sie könnte sehen, wie die Flocken anfangen, sich immer höher aufeinander zu stapeln. Als sie die Augen wieder öffnet, erblickt sie die Schönheit des Winters. Das unschuldig weiße Glitzern des Schnees, unversehrt von Fußabdrücken. Allein dafür hat es sich gelohnt zu warten, denkt sie sich und ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht. Zu sehen, wie das Licht im Schnee reflektiert wird, fasziniert sie regelrecht.
Doch ihre Augenlider werden wieder schwer und fallen zu. Sie spürt, wie sie die Kraft verlässt. Langsam zieht sie ihre Kapuze auf und tief vor ihr Gesicht. Die Arme, tief in den sowieso schon zu langen Ärmeln des Mantels versteckt, verschränkt sie zusätzlich vor ihrer Brust. Ein kleiner Windhauch weht einen Flyer daher. Nach kurzer Verwirrung in ihrem Blick streckt sie ihre Hand danach aus, um ihn aufzuheben. Der erste Blick vermutet einen Fahrplan. Ihr Herz fängt vor Aufregung und lauter Erwartungen an zu pochen und ihr Atem wird schneller. Die Erwartung endlich das zu bekommen, auf das sie so lange gewartet hat, was sie sich so sehr ersehnt. Schon vorfreudig malt sie sich aus wie es wohl sein wird in den Bus einzusteigen, dem Busfahrer ein Lächeln zu schenken und andere Fahrgäste zu erblicken. Bei jedem kurzen Zwinkern sieht sie es vor ihren Augen. Wie ein Lichtblick scheint sich anzudeuten, dass das Warten früher oder später ein Ende nehmen wird, der Fahrplan als Ankündigung dafür. Ein Lichtblick, wie ein glänzendes Juwel an einem Schmuckstück. Sie reibt sich die Augen und versucht den Flyer zu entziffern...
Tatsächlich ist es ein Fahrplan. Doch durch den Schnee ist es so eingeweicht und nass, dass die Fahrzeiten nicht mehr zu lesen sind. Einen Moment hält sie inne und denkt darüber nach. Wie sie schon seit einer Ewigkeit auf etwas wartet, ohne zu wissen, ob es eintreffen wird. Wie sie all ihre Hoffnungen und Träume in die Vorstellung davon steckt. Wie kalt ihr hier eigentlich gerade ist. Wie einsam sie sich fühlt. Ihre Augenlider auf Halbmast, fühlt sich ihr Kopf immer schwerer an. Die Kraft und der Mut verlassen sie. Ihr Platz wird nach und nach durch Gleichgültigkeit eingenommen. Langsam richtet sie sich auf und streckt kurz noch einmal ihre ermüdeten Knochen, kreist kurz ihre Schultern. Sie macht einen Schritt nach vorn und wirft einen Blick in die Richtung, aus der der Bus kommen sollte. Doch weiterhin nichts. Der Schnee knirscht unter ihren Füßen, den löchrigen Schuhen. Ein Geräusch, das sie begleitet auf ihrem Weg nach Hause. Und während sie die Straße entlang läuft sieht sie wie es am Horizont heller wird. Die Dunkelheit weicht der Dämmerung. Es dauert einen Moment, doch dann machen auch die Straßenlaternen Platz für das Licht des neuen Tages und erlöschen. Ihre Hände in den Manteltaschen, wird ihr Gang immer aufrechter, wacher und selbstbewusster. Einen Augenblick bleibt sie stehen und schaut in den Sonnenaufgang direkt vor ihr. Da wird es ihr klar.

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